Schlagworte können im Zusammenhang mit der Einführung einer neuen Technologie das Wasser trüben, aber Industrie 4.0 und das industrielle Metaverse sind etablierte Begriffe, die sich auf unterschiedliche Konzepte beziehen. Während das industrielle Metaverse ein umfassendes und sich entwickelndes digitales Umfeld darstellt, ist Industrie 4.0 ein übergreifender Begriff, der das aufkommende Industriezeitalter oder die „vierte industrielle Revolution“ beschreibt. Somit ist das industrielle Metaverse ein Merkmal der Industrie 4.0-Ära. Es steht neben verwandten Industrie 4.0-Trends wie Big Data und Analytik, künstliche Intelligenz, Roboterautomatisierung, Internet der Dinge (IoT) und Cybersicherheit.
Das industrielle Metaverse ist nicht neu
Computergestütztes Design (Computer-aided Design, CAD) gibt es seit den 1950er Jahren, und CAM (Computer-aided Manufacture, d.h. computergestützte Fertigung) folgte bald darauf. 1982 prägte der Autor William Gibson den Begriff „Cyberspace“ als allgemeine Bezeichnung für die Internetumgebung, wobei das Metaverse als die nächste Generation des heutigen Cyberspace angesehen wird. Es ist also unzutreffend zu sagen, dass diese Technologie ohne Beispiel ist. Was jedoch neu ist, ist die Verknüpfung unserer digitalen und physischen Welten. Anstatt ein Produkt digital zu entwerfen und dann zu einem physischen Prototyp zu wechseln, können Informationen nun in beide Richtungen fließen. Prototypen können mit VR-Headsets oder AR-Brillen virtuell getestet werden, während physische Objekte gescannt und auf einem Computerbildschirm manipuliert werden können, wobei die Daten in Echtzeit aus der physischen Umgebung in die virtuelle übertragen werden.
Vielleicht haben Sie bereits andere Elemente des industriellen Metaverse an Ihrem Arbeitsplatz genutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. IoT-Geräte zur Überwachung von Umweltbedingungen, selbstfahrende Fahrzeuge, Robotik und 3D-Simulationen, die Daten aus der realen Welt nutzen, gibt es schon seit einiger Zeit. Wir beginnen jedoch erst jetzt, die Vorteile der Verknüpfung dieser Elemente zu erkunden.
Der digitale Zwilling und seine potenziellen Anwendungsfälle
Im Zentrum des industriellen Metaverse steht das Konzept des digitalen Zwillings. Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles Modell, das ein Objekt in der realen Welt widerspiegelt und Ereignisdaten und andere Eingabedaten von diesem Objekt erfasst. Durch die Nutzung dieser Daten mit Hilfe von KI und anderer Software können wir eine Reihe von Anwendungsfällen in den Bereichen Planung, Echtzeitreaktion, Wartung, Optimierung, agile Produktentwicklung, Qualitätsverbesserung und mehr erschliessen.
In einem Offshore-Windpark werden beispielsweise Sensoren an den Turbinen angebracht, die die aktuelle Windgeschwindigkeit, Wellenhöhe, Vibrationen und mehr an den Kontrollraum übermitteln. Diese Daten werden dann in ein 3D-Modell eingespeist, das das Verhalten der Turbine in Echtzeit darstellt. Der digitale Zwilling erfasst nicht nur ein vollständiges Bild an einem Ort und erleichtert die Visualisierung, sondern ermöglicht den Ingenieuren auch die Durchführung von Simulationen und die Beantwortung komplexer Fragen, z. B. welche Teile früher als geplant ausgetauscht werden müssen, wenn die Häufigkeit von Stürmen im nächsten Jahrzehnt zunimmt. Anstatt Daten zu exportieren und umfangreiche manuelle Berechnungen durchzuführen, können solche Fragen durch einfaches Ändern einer Variablen und Ausführen einer Simulation beantwortet werden. Auf diese Weise ist es möglich, durch vorbeugende Wartung die Lebensdauer und Produktivität der gesamten Anlage zu verlängern.
Neben der Beantwortung von Fragen können digitale Zwillinge auch Erkenntnisse liefern, die proaktives Handeln erleichtern. In unserem Windpark-Szenario könnte ein Algorithmus für maschinelles Lernen Wetter- und Energiedaten aus den vergangenen Jahren und von mehreren Anlagen analysieren, um neue Korrelationen zwischen Wettermustern und Energiebedarf zu finden. Diese Erkenntnisse könnten automatisch zur Feinabstimmung der Anlageneinstellungen in Echtzeit genutzt werden.
Digitale Zwillinge in der Ausbildung: Ein weiterer potenzieller Anwendungsfall für die Industrie
Szenarien wie das oben beschriebene mögen wie ein Argument dafür klingen, unsere Autonomie und unser Denkvermögen an Maschinen abzugeben. Das ist jedoch nicht das Ziel. Vielmehr geht es darum, mühsame oder sich wiederholende Aufgaben auszulagern, damit wir uns auf anspruchsvollere Probleme konzentrieren und körperliche Risiken vermeiden können. Eine mögliche Anwendung ist die Ausbildung. Digitale Zwillinge können verwendet werden, um Mitarbeitende im Umgang mit schweren Maschinen zu schulen; Boeing zum Beispiel verwendet digitale Zwillinge seiner Flugzeugkomponenten, um die Arbeiter am Fliessband zu schulen. Dadurch können nicht nur Fehler gemacht werden, ohne dass dies Konsequenzen hat, sondern auch die Einarbeitungszeit verkürzt und die Bindung der Mitarbeitenden an das Unternehmen verbessert werden. Für potenzielle Arbeitskräfte kann es auch einfacher sein, sich einen Arbeitsplatz vorzustellen und zu erleben, bevor sie das Stellenangebot annehmen. Digitale Zwillinge können auch verwendet werden, um Fehlfunktionen von Anlagen und Unfälle zu simulieren: Die Vorhersage, welchen Weg Fabrikarbeiter nehmen werden, um einem Feuer zu entkommen, kann mit einer VR-Simulation viel einfacher sein.
Effizienteres Design und Prototyping: Wie das industrielle Metaverse die globale Fertigung verändern könnte
Wenn eine neue Fabrik gebaut wird, ist es nicht ungewöhnlich, dass die Arbeitnehmer sie anders nutzen, als von den Konstrukteuren vorgesehen. Es kann vorkommen, dass sie eine Abkürzung zwischen zwei Maschinen nehmen, anstatt dem vorgesehenen Weg zu folgen, und dabei Verletzungen und Schäden an der Ausrüstung riskieren. Das Testen des digitalen Zwillings eines vorgeschlagenen Layouts mit einer Vielzahl von Arbeitern könnte dazu beitragen, diese Risiken zu mindern und das ideale Layout zu ermitteln, um die Anzahl der Laufwege und manuellen Tätigkeiten zu minimieren. Neben den offensichtlichen Vorteilen für die Sicherheit kann dies auch zu erheblichen Produktivitätssteigerungen führen. Durch den Einsatz von digitalen Zwillingsprototypen konnte Siemens die Kapazität seines Werks in Nanjing nach eigenen Angaben um 200 % steigern.
Auf der Ebene des Produktdesigns können virtuelle Prototypen ohne den zeitlichen und finanziellen Aufwand des 3D-Drucks getestet werden, und es ist einfacher, Feedback von Personen an verschiedenen Standorten einzuholen. All dies führt zu einer geringeren Fehlerspanne in der Produktion, kürzeren Vorlaufzeiten und weniger Rücksendungen von Endverbrauchern.
Weitere bemerkenswerte Beispiele für digitale Zwillinge im Design sind der Einsatz von VR bei Boeing, um neue Flugzeugsitze und Gepäckfächer zu testen, und die digitalen Zwillingsstädte von Ericsson, die bei der Entscheidung über die Platzierung der 5G-Türme verwendet wurden. Digitale Zwillinge realer Städte werden auch von Herstellern autonomer Fahrzeuge eingesetzt, um ihre Fahrzeuge zu testen.