NTT DATA Business Solutions
Stephan Limberg | Dezember 9, 2020

Industrie 4.0 in der Prozessindustrie: Das sind Ihre Chancen

Insbesondere für die Prozessindustrie bietet die Industrie 4.0 und das Internet of Things große Chancen: Prozesse lassen sich end-to-end digitalisieren.

Die Chancen, die sich durch Industrie 4.0 und dem Internet of Things ergeben, werden vielerorts besprochen: Durch die umfassende Vernetzung von smarten Hard- und Softwareinstanzen – von den Maschinen und Anlagen im Shopfloor bis zum ERP-System in der Cloud – lassen sich Prozesse end-to-end digitalisieren. Die dadurch entstehenden enormen Datenmengen werden gesammelt und zu wertvollem Wissen verdichtet. Auf dieser Basis lässt sich die Wertschöpfungskette über den kompletten Lebenszyklus eines Produkts hinweg optimieren, neue Geschäftsmodelle werden möglich.

Die Studie „Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen der vierten industriellen Revolution“ der Beratungen PwC und Strategy& erkundigt sich bei 235 deutschen Industrieunternehmen aus fünf Branchen nach ihrer Einschätzung zur Industrie 4.0. Die Befragten erwarten dank der Digitalisierung über alle Branchen hinweg durchschnittliche Umsatzsteigerungen von zwei bis zu drei Prozent pro Jahr – und kumuliert für fünf Jahre von 12,5 Prozent. Man ging außerdem davon aus, dass bis 2020 86 Prozent der horizontalen und 80 Prozent der vertikalen Wertschöpfungsketten weitgehend digitalisiert sind. Gleichzeitig soll die Produktions-, Energie- und Ressourceneffizienz um 18 Prozent steigen.

Industrie 4.0: Prozessindustrie bleibt zurückhaltend – und das auf hohem Niveau

Während für die Automobilindustrie, die Elektro- und Elektronikindustrie, die Informations- und Kommunikationsindustrie sowie den Maschinen- und Anlagenbau die Vorteile dieser Entwicklung greifbar sind, bleibt die Prozessindustrie mit Blick auf die Potenziale und Möglichkeiten zurückhaltender. So erwarten die Verantwortlichen laut der Studie von PwC und Strategy& kumuliert für fünf Jahre ein Umsatzwachstum von 8,1 Prozent und eine Kostensenkung von 1,9 Prozent – das sind im Branchenvergleich die geringsten Werte. Außerdem wollen die Unternehmen der Prozessindustrie lediglich 2,7 Prozent ihres jährlichen Umsatzes bis 2020 in 4.0-Lösungen investieren – der Durchschnitt über alle Branchen hinweg liegt bei 3,3 Prozent.

Die Prozessindustrie aufgrund dieser Ergebnisse als Digitalisierungsverweigerer aufzufassen, ist aber zu voreilig. Denn vor allem die Chemie-, Kosmetik- und Pharmaunternehmen haben schon damit begonnen, ihre Produktionsprozesse zu automatisieren, als von Industrie 4.0 noch lange nicht die Rede war. Vieles, was in anderen Branchen als innovatives Digitalisierungsprojekt gefeiert wird, ist in der Prozessindustrie bereits lange etablierter Standard. Die künftigen Investitionen müssen also gar nicht so hoch ausfallen, weil schon vieles vorhanden ist; das noch zu erschließende Potenzial wird geringer eingeschätzt, weil schon viel ausgeschöpft wird. Die Prozessindustrie ist zwar zurückhaltend, das aber auch einem hohen Niveau.

Szenarien für mehr Sicherheit und Effizienz

Dennoch können auch die Chemie-, Kosmetik- und Pharmaunternehmen mithilfe der neuen Technologien Szenarien mit einem spürbaren Mehrwert realisieren – und zwar solche, die den Besonderheiten der Prozessindustrie entsprechen. Interessant wird es beispielsweise dann, wenn Roboter Aufgaben übernehmen, die eine Gefahr für Mitarbeiter darstellen – etwa beim Transport, beim Handling und bei der Kontrolle gefährlicher Substanzen. Während des Herstellungsprozesses hilft die Digitalisierung dort, wo der Mensch sich schwer tun: Reststoffe können beispielsweise dank Sensorik an schwer zugänglichen Stellen nachgewiesen und dann entsorgt oder gar umstandslos in einen neuen Fertigungsprozess überführt werden. Dies ist dann besonders interessant, wenn verschiedene Produkte auf derselben Anlage hergestellt werden. Ein weiterer Anwendungsfall – für alle fertigenden Unternehmen höchst relevant – ist Predictive Maintenance. Durch die vorausschauende Wartung sollen Ausfälle von Maschinen und Anlagen vermieden werden, wodurch die Effizienz der gesamten Produktion steigt.

Um auf Basis der neuen Technologien sinnvolle Szenarien entwickeln zu können, ist es zunächst erforderlich, die Potenziale des Unternehmens zu erkennen und die Kernprozesse zu identifizieren. Dazu gehört auch, in diesen Kernprozessen die Schwachstellen aufzudecken. Sind die Stärken und Schwächen bekannt, lassen sich die relevanten Handlungsfelder ableiten – um Potenziale besser zu nutzen oder Ineffizienzen zu beseitigen. Im Anschluss daran werden die digitalen Technologien ausgewählt, die sich für den Einsatz in den einzelnen Handlungsfeldern eignen.

ERP-System ist die Basis

Liegt die Kernkompetenz eines Unternehmens beispielsweise in der kundenspezifischen Produktentwicklung, kann es sinnvoll sein, die Rezeptentwicklung und -verwaltung in ein ERP-System zu verlagern. So entsteht eine Wissensdatenbank, in der das Labor nach bestimmten Spezifikationen suchen kann und so Zeit spart. Zudem können im Rahmen von Compliance-Checks branchenspezifische Prüfungen durchgeführt werden. Fehlen einem Unternehmen Nachweise über die Konformität bestimmter Stoff und Gemische, kann dies zu Verletzungen der Nachweispflicht gegenüber Behörden aber auch Kunden führen. Daher muss insbesondere in der Prozessindustrie der Weg eines Materials entlang der gesamten Supply Chain lückenlos nachvollziehbar sein.

Ein ERP-System kann dabei unterstützen, bei logistischen Warenbewegungen zu prüfen, ob die notwendigen Parameter für rechtliche Konformität gegeben sind – zum Beispiel in Bezug auf die REACH-Verordnung. Eine redundante Datenhaltung über andere Tools wie etwa Excel entfällt dadurch. Auch der Weg von Produkten kann mithilfe der Digitalisierung transparenter nachvollzogen werden. Bei der Abfüllung können Sensoren beispielsweise Leckagen sofort zurückmelden und protokollieren. Im Pharma-Bereich können Track-and-Trace-Prozesse Medikamente vom Verpackungsvorgang bis zur Auslieferung an den Kunden verfolgen. Um solche Prozesse sauber abzubilden, bedarf es einer detaillierten Betrachtung aller vorhandenen Systeme. Denn nur so lässt sich das Zusammenspiel von ERP-System, Prozessleitsystemen und Maschinen optimal aufeinander abstimmen.

– von Stephan Limberg, Leitung Branchenmanagement Prozessindustrie, NTT DATA Business Solutions AG –
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