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Patrick Henze | August 3, 2021 | 5 min.

Gefälschte Arzneimittel in europäischen Supply Chains

Blog-Serie zum Thema Serialisierung – Supply-Chain-Herausforderungen

Serialization Challenges – Complexity of pharmaceutical supply chains

Blog-Serie zum Thema Serialisierung – Supply-Chain-Herausforderungen

Unternehmen in der Pharmaindustrie stehen unter großem Druck: Sie müssen den Behörden und der Öffentlichkeit ein hohes Maß an Transparenz in ihrer durchgängigen Lieferkette bieten. Das ist nicht verwunderlich, denn die Compliance-Regeln und Vorschriften werden lokal und international immer strenger, um alle möglichen Risiken in der Branche zu bekämpfen. Eine dieser Herausforderungen sind gefälschte Medikamente, die eine ernsthafte Bedrohung für die globale Gesundheit darstellen.

In diesem ersten Artikel unserer Blog-Serie skizzieren wir den Status Quo der internationalen Industrie in Sachen Nachverfolgung von Produkten mit sGTIN-Nummern. Und wir erklären, warum es für Sie unerlässlich ist, die Serialisierung in Ihrer gesamten internen Lieferkette zu implementieren.

Das globale Problem der Arzneimittelfälschung

Gefälschte Medikamente stellen für die Patientensicherheit ein großes Risiko dar. In der westlichen Welt ist etwa ein Prozent der Produkte minderwertig oder gefälscht 1. In den Entwicklungsländern ist diese Zahl viel höher: Im Durchschnitt sind zehn Prozent der medizinischen Produkte, die dort verkauft werden, gefälscht 2;. In einigen Ländern liegt dieser Prozentsatz sogar bei bis zu 40 Prozent für manche Medikamente 3.

Die Folgen dieser Praktiken sind immens: Ein gefälschtes Medikament könnte keinen Wirkstoff, einen anderen Wirkstoff oder eine andere Menge an Wirkstoff enthalten. Die Einnahme eines solchen Medikaments kann zu keiner Wirkung, aber auch zu einer abweichenden Wirkung oder zu einer Überdosierung führen.

Die EU-Fälschungsrichtlinie 2011/62/EG definiert gefälschte Arzneimittel in drei Dimensionen:

  1. Falsche Identität, einschließlich Verpackung, Kennzeichnung, Name oder Zusammensetzung jeglicher Inhaltsstoffe und auch Trägerstoffe.
  2. Falsche Herkunft, bezüglich des herstellenden Unternehmens, des Herkunftslands oder einem falschen Inhaber der Genehmigung zur Inverkehrbringung.
  3. Falsche Aufzeichnungen oder Dokumente im Zusammenhang mit dem Vertriebsweg

Was Unternehmen heute schon im Griff haben: Die europäische Kommission fordert eine Reihe an Maßnahmen zur Vorbeugung, wie manipulationssichere Verpackungen. Für die Informationstechnologie spannendsten Anforderungen sind jedoch die Serialisierung von Verpackungseinheiten und deren Nachverfolgung.

Was Pharmaunternehmen vermutlich verdrängt haben: Die Kommission folgte nur anderen Ländern, welche ein solches Konzept in ähnlichen Varianten bereits im Einsatz hatte. Doch noch immer ziehen weitere Länder nach und es ist nicht damit getan die sGTIN-Nummern per securPharm an den EU-Hub zu melden, wenn Sie Produkte außerhalb der EU in Verkehr bringen. Immer weitere Nicht-EU-Staaten werden in naher Zukunft an eigene nationale Datenbanken angebunden werden müssen. Mit und ohne Aggregation. Bis die Kommission auch für die EU-Länder eine Aggregation fordert ist nur eine Frage der Zeit.

Einblicke in die Prozesse der itelligence AG

 

 

Wussten Sie zum Beispiel, dass die Arzneimittelfälschung nach Punkt 1 in Europa gar nicht so nennenswert wie in anderen Ländern war? In Deutschland lag das Hauptaugenmerk gar nicht auf der Beseitigung von falscher Identität von Produkten, sondern auf Punkt 3, der unsachgemäßen Abrechnung. Selbst 2020 gelang es noch einem einzelnen Apotheker durch Abrechnungsbetrug 2 Millionen Schaden an Krankenkassen zu erzeugen. Generell sind die Betrugsfälle seit dem Jahr 2019 in Deutschland wieder stark gestiegen, um über 50%. Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) schätzt einen jährlichen Schaden von über 475 Millionen € in ganz Deutschland 4.

 

 

Was Sie über Serialisierung wissen sollten: Die Grundlagen

Die sGTIN kurz erklärt

Dank der digitalen Transformation werden die produzierten Medikamente nun für immer mehr Länder serialisiert. Das heißt, die Hersteller der Medikamente versehen jede verkaufsfähige Einheit, die sie produzieren, mit einer eindeutigen Seriennummer. Die Kombination aus dieser eindeutigen Seriennummer und der Nummer, die zum produzierten Produkt gehört, der Global Trade Item Number (GTIN), bildet eine Serialized Global Trade Item Number (sGTIN). Das von SAP bereitgestellte Tool, das die Rückverfolgbarkeit ermöglicht, ist SAP Advanced Track and Trace for Pharmaceuticals (ATTP).

Schon immer wurden Arzneimittel mit einer Global Trade Item Number (GTIN) versehen. Diese erfasste jedoch nur das Produkt oder Produktvarianten. Zur Rückverfolgung wurden Chargennummern auf die Verkaufseinheit gedruckt. Dies wurde mit der 2011/62/EU unzureichend und die Pharmaunternehmen mussten ihre Verkaufseinheiten nun serialisieren. Kombiniert man nun diese Seriennummer mit der GTIN erhält man die Serialized Global Trade Item Number (sGTIN). SAP Advanced Track and Trace for Pharmaceuticals (ATTP) ist ein Modul das bei der Erstellung und Verwaltung unterstützt.

Wie Apotheker*innen in Europa sGTIN verwenden

In Europa werden alle verschreibungspflichtigen Medikamente, die produziert werden, vom Zulassungsinhaber in einer Datenbank registriert, die von der Regierung reguliert wird. In dem Moment, in dem das Produkt in einer Apotheke verkauft wird, ist diese Apotheke verpflichtet, die sGTIN-Nummer zu scannen, die auf der verkauften Packung aufgedruckt ist. Dieser Scanvorgang prüft, ob die sGTIN-Nummer in der behördlichen Datenbank gefunden werden kann oder nicht, und wenn die Nummer gefunden wird, wird geprüft, ob der Status korrekt ist.

Ist das der Fall, kann der/die* Apotheker*in die Packung verkaufen. Dies löst eine Aktualisierung in der Datenbank für die Seriennummer aus, die dann als abgegeben gekennzeichnet wird. Wenn die Nummer nicht in der Datenbank gefunden wurde oder der Status falsch ist, bedeutet dies, dass das Medikament möglicherweise gefälscht ist. Der/ die* Apotheker*in darf diese Packung nicht abgeben und der Hersteller wird automatisch darauf aufmerksam gemacht, dass eine unbekannte sGTIN-Nummer entdeckt wurde.

Hier wird es kompliziert: Internationale Anforderungen

In Europa unterstehen alle EU-Länder der gleichen Serialisierungsorganisation, der European Medicines Verification Organization (EMVO). Wenn Hersteller ausschließlich für den europäischen Markt produzieren, sind die Serialisierungsregeln einheitlich. Komplizierter wird es, wenn Produkte in Länder außerhalb Europas verkauft werden.

Andere Länder unterliegen nicht nur anderen Arzneimittelverifizierungssystemen, sondern können auch andere Serialisierungsanforderungen haben. Für den europäischen Markt gilt die oben erwähnte Serialisierung, bei der die Hersteller verpflichtet sind, die Seriennummern an die institutionelle Datenbank zu melden. Diese Anforderung wird auch als „Reporting“ bezeichnet.

Einige Länder, wie z. B. Russland, China und Saudi-Arabien, verlangen sogar einen vollständigen Track-and-Trace-Prozess. Dies liegt daran, dass diese die Serialisierung auch nützt, um Fälle von Korruption sowie von gestohlenen und illegal importierten Arzneimitteln aufzudecken. Anstatt nur Seriennummern im Produktionsprozess zu melden, verlangen diese Länder Berichte darüber, welche Seriennummern an welche Kunden versandt werden. Mit anderen Worten: Diese Märkte erfordern eine noch umfangreichere serialisierungsbezogene Handhabung in der gesamten Lieferkette.

Serialisierungsaggregation in der Pharmazie

Um diese Track-and-Trace-Prozesse zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass die Seriennummern aggregiert werden. Das bedeutet, dass die Serialisierungssoftware weiß, welche Seriennummern in einem Karton enthalten sind und welche Kartons auf einer Palette gestapelt sind. Wann immer ein Auftrag für einen Kunden kommissioniert wird, der Track-and-Trace erfordert, muss der Lagerarbeiter statt Tausender von Seriennummern nur das Palettenidentifikationsetikett (SSCC) scannen. Dieser Scanvorgang reicht aus, um alle enthaltenen Seriennummern, die versandt werden, an die staatliche Datenbank zu melden.

Unterschiedliche Pick-Prozesse für unterschiedliche Länder

Da die meisten Arzneimittelhersteller für mehrere Länder produzieren, führen diese Serialisierungsanforderungen zu unterschiedlichen Kommissionierprozessen für die Märkte, die diese Track-and-Trace-Anforderungen haben. Im Moment verlangt nur eine begrenzte Anzahl von Ländern diese Aktivitäten. Daher können die Hersteller die Kommissionierprozesse für diese „speziellen“ Märkte noch von denen für die „normalen“ Märkte trennen.

Transparente Lieferketten werden zur Norm – entscheiden Sie sich für eine integrierte Serialisierung

Es verlangen jedoch immer mehr Länder eine transparentere Lieferkette. Dies hat zur Folge, dass die internen Lieferkettenprozesse komplexer werden. Wenn die „speziellen“ Märkte nicht mehr nur einen kleinen Teil des Gesamtmarkts ausmachen, werden sie Teil des „normalen“ Geschäfts. Infolgedessen umfasst der normale Prozess mehrere Szenarien. Für einen Lagerbetreiber ist es unmöglich, genau zu wissen, wann welche Serialisierungsaktivität erforderlich ist. Um den Betreibern zu helfen, müssen die Serialisierungsprozesse in die eingesetzte Lagerlösung integriert werden. Bei unseren Kunden ist dies häufig eine SAP EWM-Lösung (Extended Warehouse Management).

Integration der Serialisierung: Relevant für alle Lagerprozesse

Ein weiteres Ergebnis des zunehmenden Transparenzbedarfs in der Lieferkette ist, dass immer mehr Paletten in einem Lager aggregiert werden müssen. Das bedeutet, dass beim Umpacken oder Konsolidieren von Paletten im Lager nicht nur das Lagersystem aktualisiert werden muss, sondern auch die Objekthierarchie im Serialisierungssystem. Wenn diese Systeme nicht aufeinander abgestimmt sind, führt dies zu einem falschen Versand von Seriennummern an Kunden. Die Integration von Serialisierungsprozessen ist also nicht nur für den Kommissionierprozess relevant, sondern es müssen auch andere Lagerprozesse berücksichtigt werden.

Ihre Lieferkette wird komplexer, seien Sie bereit

Dass die interne Lieferkette für Hersteller von verschreibungspflichtigen Medikamenten durch die Serialisierungsanforderungen komplexer wird, ist mittlerweile mehr als offensichtlich. In unserem nächsten Blogartikel geben wir Einblicke in unsere täglichen Erfahrungen in der Life Sciences Branche und erzählen Ihnen mehr darüber, wie wir serialisierungsbezogene Lagerprozesse optimieren. Die meisten Kunden, denen wir helfen, haben mit der Einhaltung dieser strengen Serialisierungsanforderungen in ihrem Lager zu kämpfen. Denn die Einhaltung ist oft mit mühsamer und fehleranfälliger Handarbeit verbunden. Eine Herausforderung, die sich mit einer integrierten End-to-End-Lösung bewältigen lässt, bei der die Serialisierung ein integraler Bestandteil ist.

-von Patrick Henze, Head of CoE und Client Partner Life Sciences Solution Design,  NTT DATA Business Solutions AG und Robert Klauss Supply Chain Management Consultant and Life Sciences Specialist

E-Mail: [email protected]

 

Sie können nicht bis zu unserem nächsten Blog-Beitrag warten, um herauszufinden, wie Sie der wachsenden Komplexität in Ihrer pharmazeutischen Lieferkette begegnen können? Gerne diskutieren wir mit Ihnen über Ihre Herausforderungen:

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1 https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/substandard-and-falsified-medical-products
2 https://www.who.int/news/item/28-11-2017-1-in-10-medical-products-in-developing-countries-is-substandard-or-falsified
3 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2845817/#bib2
4 Abrechnungsbetrug: Drastischer Anstieg | APOTHEKE ADHOC (apotheke-adhoc.de)