Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nimmt die Zahl der Demenzerkrankungen weltweit zu. In den 38 OECD-Mitgliedsstaaten gab es im Jahr 2021 15,7 Demenzfälle pro 1.000 Einwohner – im Jahr 2050 werden voraussichtlich fast 30 von 1.000 Menschen mit Demenz leben.
Industrienationen wie Japan und die westeuropäischen Länder sind überdurchschnittlich stark betroffen. Allein in Deutschland gibt es 1,5 Millionen Demenzerkrankte – hinzu kommen Familienangehörige, die ebenfalls von dieser Situation und ihren Folgen betroffen sind. Die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu befassen, wird immer deutlicher. Ein Bereich, in dem die Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz an Dynamik gewinnt, ist die Tech-Community. Hier besteht die Vision einer Zukunft, in der die Auswirkungen von Demenz direkt angegangen werden.
Diese Idee wird durch eine zugrundeliegende Technologie genährt, die zunehmend in der Lage ist, mit innovativen Methoden die Linderung des Krankheitsbildes zu ermöglichen. Eine zentrale Frage unseres Teams lautet: Wie können wir eine Person virtuell replizieren und sicherstellen, dass sie dauerhaft existent bleibt?
Das Gedächtnis eines Menschen am Leben halten
Genau diese Frage habe ich mir gestellt, nachdem ein Familienmitglied an Demenz erkrankt war. In ihren späteren Jahren war der einzige Mensch, an den sich meine Großmutter noch erinnerte, ihr Ehemann – aber er war schon einige Jahre zuvor verstorben. Sie fragte jeden Morgen nach ihm, und die Nachricht von seinem Tod wühlte sie immer wieder erneut sehr auf. Am Ende griff unsere Familie auf kleine Notlügen zurück. Diese Erfahrungen brachten uns dazu, darüber nachzudenken, wie die Erinnerung an eine tote Person zurückgebracht werden kann.
Ziel des Forschungsprojekts „Living Memory“ war es, die Lebensqualität eines Demenzerkrankten in seinen letzten Lebensjahren zu verbessern und sein Gedächtnis zu unterstützen, um das Fortschreiten seiner Symptome zu verlangsamen.
AI Avatars in Aktion
Für unser Team war es klar, dass KI eine der Antworten auf diese Frage ist. Seit mehr als drei Jahren arbeiten unsere Expert*innen an einer Plattform für „digitale Menschen“, die mithilfe künstlicher Intelligenz menschenähnliche Avatare für die Interaktion in der Realität schaffen.
Die Technologie hat sich bereits in verschiedenen Anwendungsfällen bewährt, u. a. als Sportpromoter bei der Tour de France, als Unterstützung einer Beratungs-Hotline für Kinder, als Kundenbetreuung in einem Autohaus und als Nachhilfelehrer*in für junge Kinder, die Englisch lesen lernen.
Ein Avatar namens Victoria arbeitet in der Touristeninformation der dänischen Stadt Vejle, in der eine Etappe der Tour de France stattfand. Sie versorgte die Besucher mit Informationen über Reiseziele in der Region und Sightseeing-Touren.
Deepfake-Avatare – Die nächste Stufe
In der Zwischenzeit hat sich die Tür zu einer neuen Technologiedimension geöffnet. Dank der Deepfake-Technologie können wir jetzt jedes beliebige Gesicht mit einem digitalen Avatar kombinieren, um den Menschen den Eindruck zu vermitteln, sie würden mit einem anderen echten Menschen kommunizieren. Mit anderen Worten: Eine Art interaktives Deepfake in Echtzeit.
Bisher war es nur möglich, dem Video von einer Person ein anderes Gesicht zu überschreiben. Der Nutzer hörte und sah einen Menschen, konnte aber nicht mit ihm interagieren, da alles im Voraus produziert und aufgezeichnet werden musste. Unsere Plattform und die Deepfake-Technologie stellen einen großen Fortschritt in dieser Technologie dar und ermöglichen es den Nutzer*innen, mit einem digitalen Menschen in Dialog zu treten. Das KI-Team erforschte die Echtzeit-Deepfake-Avatare in Zusammenarbeit mit dem renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, MA.
Stimulierung von Demenzerkrankten durch Dialog
Dieser technische Durchbruch bedeutet, dass Demenzerkrankte über ein Tablet oder einen Computer mit ihren Angehörigen kommunizieren können. Beispielsweise kennt der Avatar des verstorbenen Ehemanns Geburtstage, Jahrestage, gemeinsame Urlaube, Haustiere und andere Familienmitglieder. Diese Fakten werden zusammen mit gemeinsamen Interessen wie Gartenarbeit, Wandern und Radfahren in die Wissensdatenbank aufgenommen, und diese Informationen ermöglichen es der KI, ein Gespräch zu beginnen und zu führen. Das bedeutet, dass viele Fragen beantwortet werden müssen, um eine Persönlichkeit zu trainieren und einen vollständigen virtuellen Charakter zu erstellen.
Einsatzmöglichkeiten für virtuelle Menschen
Während es in der ersten Phase des „Living Memory“-Projekts um das technische Design ging, konzentriert sich die zweite Phase auf mögliche Anwendungsfälle. Schließlich kann ein Avatar nicht nur nach dem Tod einer Person mit Informationen gefüllt werden, sondern auch proaktiv, während sie noch am Leben ist. Zum Beispiel können die Nutzer wählen, ob sie Erinnerungen für ihre Familien hinterlassen wollen – oder ob sie die Erinnerungen ihrer Familien mit auf einen Flug zum Mars nehmen wollen.
Könnte die Technologie den Menschen sogar bei der Bewältigung von Trauerfällen helfen? Unser Team entwickelt auch Anwendungsfälle zusammen mit einer Fokusgruppe älterer Menschen, die nach ihren Bedürfnissen befragt werden, denn bevor die Technologie in der realen Welt eingesetzt werden kann, muss unsere Forschung erst einmal herausfinden, was ein angemessener Ansatz ist.
Digitale Unsterblichkeit?
Letzten Endes sollte man sich vor Augen halten, dass die Diskussion über digitale Unsterblichkeit und die „Wiederbelebung“ von Toten – auch virtuell – eine äußerst sensible Angelegenheit ist. Es stellt sich die Frage, ob wir damit in der ethischen Debatte noch auf der richtigen Seite stehen oder ob wir eine Grenze überschritten haben.
Die Technologie ist weit mehr als nur ein interaktives Fotoalbum. Auf einer Konferenz wurden ältere Menschen nach ihrer Meinung gefragt. Etwa die Hälfte war dafür, während fast jeder Fünfte die Idee kategorisch ablehnte.
Auch virtuelle Menschen haben einen letzten Tag
Eine weitere interessante Frage betrifft die Löschung des virtuellen Avatars. Wer sollte bestimmen dürfen, wann dies geschieht, oder sollten Avatare ewig leben? Wem gehört ein Avatar, wann wird er geboren und wann genau sollte er offline gehen? All dies kann in einer Blockchain dokumentiert und in einem Vertrag geregelt werden, und NFTs – non-fungible tokens – sind eine mögliche Lösung. Fest steht, dass der moralische Rahmen durch einen rechtlichen Rahmen ergänzt werden muss, der die technische Entwicklung des digitalen Lebens begleitet. Die technische Seite der Dinge könnte das am wenigsten komplexe Problem sein, da dies alles durch unsere Digital Human Platform ermöglicht wird, an der wir seit drei Jahren arbeiten. Theoretisch könnten wir schon morgen mit dem Bau eines Avatars beginnen.
Die dringendere Frage ist jedoch, ob wir bereit sind, die Technologie in Aktion zu erleben. Wir sind zuversichtlich, dass die ersten Pilotprojekte im nächsten Jahr beginnen werden. Denn die Zeit schreitet voran, die Technologie ist nicht mehr aufzuhalten und wird bald für alle verfügbar sein. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt schon festlegen, wie wir am besten mit virtuellen Menschen umgehen und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt.