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Thomas Nørmark | Januar 19, 2023 | 5 min

Wie digitale Avatare Menschen im Kampf gegen Demenz helfen können

Unser KI-Innovationsteam hat einen wichtigen technischen Durchbruch erzielt: eine Echtzeit-Konversation mit einem virtuellen Avatar, dessen Gesicht und Mimik denen eines echten Menschen ähneln. Derzeit wird getestet, ob diese Technologie zur Stimulation von Demenzpatienten eingesetzt werden kann.

Ein älterer Herr sitzt im Freien und hält ein Tablet-Gerät

KI zur Weiterentwicklung der Forschung zur Unterstützung von Demenzpatienten einsetzen

Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nimmt die Zahl der Demenzerkrankungen weltweit zu. In den 38 OECD-Mitgliedsstaaten gab es im Jahr 2021 15,7 Demenzfälle pro 1.000 Einwohner – im Jahr 2050 werden voraussichtlich fast 30 von 1.000 Menschen mit einer Demenz leben.

Industrienationen wie Japan und die Länder Westeuropas sind überdurchschnittlich stark betroffen. Allein in Deutschland gibt es 1,5 Millionen Demenzkranke – und deren Angehörige, die ebenfalls von der Situation betroffen sind.

Die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu befassen, wird immer deutlicher. Ein Bereich, in dem die Diskussion über Demenz an Dynamik gewinnt, ist die Tech-Community in verschiedenen Formaten, in denen eine Vision von einer Zukunft entsteht, in der die Auswirkungen von Demenz direkt angegangen werden können.

Diese Idee wird durch die zugrunde liegende Technologie genährt, die zunehmend in der Lage ist, innovative Ansätze zur Linderung der Krankheit zu ermöglichen. Eine zentrale Frage unseres Teams lautet: Wie können wir eine Person virtuell replizieren und sicherstellen, dass sie dauerhaft existiert?

Die Erinnerung an eine Person lebendig halten

Genau diese Frage habe ich mir gestellt, nachdem ein Familienmitglied an Demenz erkrankt war. In ihren späten Jahren war der einzige Mensch, an den sich meine Grossmutter noch erinnerte, ihr Ehemann – aber er war schon einige Jahre zuvor verstorben. Jeden Morgen fragte sie nach ihm, und die Nachricht von seinem Tod machte sie immer sehr traurig.

Am Ende griff unsere Familie auf kleine Notlügen zurück. Diese Erfahrungen brachten uns dazu, darüber nachzudenken, wie man die Erinnerung an einen Verstorbenen zurückbringen kann.

Ziel des Forschungsprojekts „Living Memory“ war es, die Lebensqualität eines Demenzkranken in seinen letzten Lebensjahren zu verbessern und sein Gedächtnis zu stimulieren, um das Fortschreiten seiner Symptome zu verlangsamen.

KI-Avatare in Aktion

Für unser Team war es offensichtlich, dass KI eine der Antworten auf diese Frage ist.

Seit mehr als drei Jahren arbeiten unsere Experten an einer Plattform für „Digital Humans“ – mit künstlicher Intelligenz werden menschenähnliche Avatare für die Interaktion in Echtzeit geschaffen.

Die Technologie hat sich bereits in verschiedenen Anwendungsfällen bewährt, u. a. als Sportpromoter bei der Tour de France, als Helfer für eine Kinder-Helpline, als Kundenbetreuer in einem Autohaus und als Nachhilfelehrer für kleine Kinder, die Englisch lesen lernen.

Ein Avatar namens Victoria arbeitet in der Touristeninformation der dänischen Stadt Vejle, in der eine Etappe der Tour de France stattfand. Sie versorgte die Besucher mit Informationen über Reiseziele in der Region und Sightseeing-Touren.

Deepfake-Avatare – die nächste Stufe

In der Zwischenzeit hat sich die Tür zu einer neuen technologischen Dimension geöffnet.

Dank der Deepfake-Technologie können wir jetzt jedes beliebige Gesicht mit einem digitalen Avatar kombinieren, um den Menschen den Eindruck zu vermitteln, sie würden mit einem anderen Menschen kommunizieren. Mit anderen Worten: eine Art interaktives Deepfake in Echtzeit.

Bisher war es nur möglich, einem Video von einer Person ein anderes Gesicht hinzuzufügen. Der Nutzer hörte und sah einen Menschen, konnte aber nicht mit ihm interagieren, da alles im Voraus produziert und aufgezeichnet werden musste.

Dank unserer Plattform und der Deepfake-Technologie können die Nutzer nun in einen Dialog mit einem digitalen Menschen treten, was einen grossen Fortschritt in dieser Technologie darstellt. Das KI-Team erforschte die Echtzeit-Deepfake-Avatare in Zusammenarbeit mit dem renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, MA.

Demenzpatienten durch Dialog stimulieren

Dieser technische Durchbruch bedeutet, dass Demenzkranke über ein Tablet oder einen Computer mit ihren Angehörigen kommunizieren können.

Der Avatar ihres verstorbenen Ehemanns kennt zum Beispiel Geburtstage, Jahrestage, gemeinsame Urlaube, Haustiere und andere Familienmitglieder. Diese Fakten werden zusammen mit gemeinsamen Interessen wie Gartenarbeit, Wandern und Radfahren in die Wissensbasis aufgenommen, und diese Informationen ermöglichen es der KI, ein Gespräch zu beginnen und zu führen.

Das bedeutet, dass eine Menge Fragen beantwortet werden müssen, um eine Persönlichkeit zu trainieren und einen ganzen virtuellen Charakter zu schaffen.

Anwendungsfälle für virtuelle Menschen

Während es in der ersten Phase des „Living Memory“-Projekts um das technische Design ging, konzentriert sich die zweite Phase auf mögliche Anwendungsfälle. Schliesslich kann ein Avatar nicht nur nach dem Tod einer Person mit Informationen gefüllt werden, sondern auch proaktiv, während sie noch lebt.

So können die Nutzer beispielsweise entscheiden, ob sie Erinnerungen für ihre Familien hinterlassen wollen – oder ob sie die Erinnerungen an ihre Familien mit auf einen Flug zum Mars nehmen wollen.

Könnte die Technologie Menschen sogar bei der Bewältigung von Trauerfällen helfen? Unser Team entwickelt auch Anwendungsfälle zusammen mit einer Fokusgruppe älterer Menschen, die nach ihren Bedürfnissen befragt werden, denn bevor die Technologie in der realen Welt eingesetzt werden kann, muss unsere Forschung erst einmal herausfinden, was der richtige Ansatz ist.

Digitale Unsterblichkeit?

Letztendlich sollte man sich vor Augen halten, dass die Diskussion über die digitale Unsterblichkeit und die „Wiederbelebung“ von Toten – selbst virtuell – eine hochsensible Angelegenheit ist. Es stellt sich die Frage, ob wir in der ethischen Debatte noch auf der richtigen Seite stehen oder ob wir eine Grenze überschritten haben.

Die Technologie ist weit mehr als nur ein interaktives Fotoalbum. Auf einer Konferenz wurden ältere Menschen nach ihrer Meinung gefragt. Etwa die Hälfte war dafür, während fast jeder Fünfte die Idee kategorisch ablehnte.

Auch virtuelle Menschen haben einen letzten Tag

Eine weitere interessante Frage betrifft die Löschung des virtuellen Avatars. Wer sollte bestimmen dürfen, wann dies geschieht, oder sollten Avatare ewig leben?

Wem gehört ein Avatar, wann wird er geboren und wann genau soll er offline gehen? All dies kann in einer Blockchain dokumentiert und in einem intelligenten Vertrag geregelt werden, und NFTs (Non-Fungible Tokens) sind eine mögliche Lösung.

Klar ist, dass der moralische Rahmen von einem rechtlichen Rahmen begleitet werden muss, der die technische Entwicklung eines digitalen Lebens unterstützt.

Die technische Seite der Dinge könnte das am wenigsten komplexe Problem sein, da dies alles durch unsere Digital Human Platform ermöglicht wird, an der wir seit drei Jahren arbeiten. Theoretisch könnten wir schon morgen mit dem Bau eines Avatars beginnen.

Die dringendere Frage ist jedoch, ob wir bereit sind, die Technologie in Aktion zu erleben. Wir sind zuversichtlich, dass die ersten Pilotprojekte im nächsten Jahr beginnen werden. Denn die Zeit schreitet voran, die Technologie ist nicht mehr aufzuhalten und wird bald für alle verfügbar sein.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt schon festlegen, wie wir am besten mit virtuellen Menschen umgehen, und nicht erst später.

Ein zusammengesetztes Bild von realen und digitalen Avatar-Frauengesichtern

Deepfakes

Deepfake ist ein Kofferwort aus „Deep Learning“ (basierend auf Deep Neural Networks) und „Fake“.

Deepfakes sind gefälschte Bilder, Audiodateien, Texte oder Videos. Letzteres ist die bekannteste Anwendung der Deepfake-Technologie, bei der Prominente häufig in kompromittierenden Situationen dargestellt werden und Dinge sagen, die sie nicht gesagt haben.

Beim Face Swapping wird das Gesicht einer Person durch ein anderes Gesicht mit demselben Gesichtsausdruck, derselben Beleuchtung und derselben Blickrichtung ersetzt. Modernste KI-Technologie benötigt nur wenige Minuten Videomaterial, um das neue Gesicht an alle Situationen des Originalvideos anzupassen. Die Nachstellung von Gesichtern ermöglicht es, die Kopfbewegungen, die Mimik und die Lippenbewegungen einer Person zu reproduzieren und so täuschend echte Videos zu erstellen.

Unserem Team ist es gelungen, mithilfe eines virtuellen Avatars Deepfakes in Echtzeit zu erstellen. Die Technologie erzeugt einen virtuellen Menschen, der auf einen Informationsspeicher für Echtzeitgespräche zugreifen und mithilfe von KI die entsprechenden Sätze als Teil eines Dialogs sprechen kann.

Die Macht und das Potenzial digitaler Avatare

Dank der Deepfake-Technologie können wir jetzt jedes beliebige Gesicht mit einem digitalen Avatar kombinieren, um den Menschen den Eindruck zu vermitteln, sie würden mit einem anderen Menschen kommunizieren. Möglich macht das unsere „Digital Human Platform“ – theoretisch könnten wir schon morgen mit dem Bau eines Avatars beginnen.

mehr über die it.human-Plattform

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